Wenn Klinik- oder Geriatrie-Clowns ein Zimmer betreten, gehören sie zu den wenigen Personen, die kein bestimmtes Ziel verfolgen, keinen Auftrag haben, für den Bewohner, den Patient oder das Kind. Und doch holen Klinik-Clowns Patienten aus der Demenz-Lethargie und reduzieren die Angst bei Kindern vor einer OP. Sie entspannen aufgeregte Eltern und sorgen für heitere Momente bei gestresstem, medizinischem Personal. Und das alles durch ein bisschen Tralala und Judihui?
Dass das so gut funktioniert ist kein Zufall aber doch planlos. Oder besser gesagt, absichtslos.
Wie bitte?
Clowns sind Therapeuten ohne Ziel. Um zu zeigen, warum diese Haltung so wichtig ist, möchte ich kurz in ihre Tätigkeit eintauchen und aufzeigen, was da passiert. Ich erlebe es als Klinikclown immer wieder, dass Kinder, die bereits Erfahrung haben mit Klinikpersonal, schon durch den alleinigen Anblick von Menschen in blauer Kleidung, sofort in Panik geraten. Das ist nicht fair.
Denn der Stress, der in dem Kind entsteht, wird durch eine nicht verarbeitete (traumatische) Erfahrung, also eine schlechte Erinnerung ausgelöst und nicht durch die spezifische Person, die den Raum betritt. Diese Fachperson, ausgerüstet mit Utensilien für die Blutentnahme, wird es schwer haben. Auch wenn sie die besten Absichten, die meiste Erfahrung und auch ein gutes Händchen für aufgeregte Kinder hat. Warum?
Die Ausübung der Krankenpflege wird von Angehörigen, in diesem Fall Eltern, zunehmend kritisch betrachtet und grundsätzlich mehr als Dienstleistung verstanden. Gut gemeinte Fürsorge kann dann schnell in eine fordernde Kundenrolle und/oder Überfürsorge kippen. Angespannte Eltern bedeuten für das Personal leider immer auch angespannte Kinder.
Das Personal trifft also auch auf Kinder, welche gewohnt sind, die eigenen Eltern und auch Situationen mit anderen, kontrollieren zu können. Diese Kinder werden nicht einfach so mitmachen wollen zugunsten einer dringend notwendigen Untersuchung. Auch dieser Ball landet also ungünstig im Feld des klinischen Personals, weil sie diejenigen sind, die das Kind überzeugen müssen, in manchen Fällen sogar zwingen müssen, mitzumachen.
Auch sind grundsätzlich Patienten und deren Angehörige heute besser informiert über die Erkrankungen und deren Behandlungsmöglichkeiten. Das grundlegende Vertrauen und die Obrigkeitstreue gegenüber Ärzten und medizinischem Personal, welche noch bei älteren Generationen meist selbstverständlich war, lässt nach. Es ist gut erforscht, dass Vertrauen zum medizinischen Personal wichtig ist für den Behandlungs- und Heilungsverlauf ist. Denn, wer seinem Arzt und seiner Ärztin vertraut, vertraut auch der von ihm verordneten Therapie und hält sich exakter an Vorgaben zur Behandlung.*
Patienten auf Stationen sind gestresst, wenn sie sich nicht ernst genommen fühlen. Das hat gute Gründe:
Medizinisches Personal als Ausführende kennen alle klinischen Abläufe und deren Konsequenzen sehr gut. Wenn man beispielsweise eine Blutentnahme oder Lumbalpunktion schon hundertmal gemacht hat, sind diese nicht mehr aufregend, sondern Routine. Für die Patienten ist alles neu und unsicher im Ausgang. Man weiß auch nie genau, wann etwas passiert. Und dann wirkt folgender, gut gemeinter Satz eher eskalierend:
„Wird schon werden.“
„Ähm, sind Sie sicher?“
„Ja, es geht jetzt auch schon los. Machen Sie sich keine Sorgen.“
„Mmpf…..“
Ein weiteres, noch neueres Phänomen nennt man: Coolout.
Er ist nicht wie Burnout eine Erkrankung, sondern vielmehr ein Schutzmechanismus von Pflegenden. Wenn diese sich aufgrund von ökonomischen Zwängen genötigt fühlen, ständig schneller arbeiten zu müssen, entsteht ein Prozess der moralischen Desensibilisierung. Früher hätte man wohl Abstumpfen dazu gesagt. Eine Kinderkrankenschwester zuckte im Gespräch mit einer besorgten Mutter mit den Achseln und sagte: “Damit können Sie sich mal an den Gesundheitsminister wenden. Hier können wir das nicht ändern.“
Sachlich richtig, auch nicht unfreundlich – aber was löst das bei der Mutter aus? Erreichen die beiden jetzt zusammen zügig die wichtigen Ziele? Das ist übrigens für die Krankenschwester genauso wichtig, möchte sie pünktlich Feierabend machen und am Ende des Tages noch Akku übrig haben.
Der gefühlte Anteil von dauerhafter Überforderung, also wenn die Arbeit häufig oder oft in Hetze erledigt werden muss, liegt in der Pflege inzwischen bei sagenhaften 76 % – weit über dem Durschnitt aller Branchen.
Das wirkt sich negativ auf die Empathiefähigkeit des Personals aus. Denn laut einer Studie im Fachmagazin „Current Biology“ senkt Stress das Mitgefühl für andere unmittelbar. Das ist ein Dilemma für eine Berufsgruppe, deren Aufgabe es ist, sich um andere Menschen zu kümmern, die aber dauernd stark gestresst ist.
Einen Idealzustand, wo alle sich pudelwohl fühlen und dauerhaft in ihrer Mitte sind, wird man in einem klinischen Betrieb, wo Schmerz, Trauer, Verlust, Leid, Verzweiflung, Wut, Ohnmacht, Scham, einfach dazugehören nur schwer erreichen. Aber zwischen dem „Ideal“ Pudelwohl entspannt und „Gar nichts tun“, also sich überhaupt nicht in Richtung Besserung bewegen, ist ein großer Raum, den wir nutzen können.
Es ist für alle gut, den Stresspegel zu senken. Für die Eltern entspannt es die Kinder, davon profitiert das Personal, wovon wiederum das Kind und die Eltern profitieren. Egal, an welcher Stelle man ansetzt, um Stress und Belastung zu minimieren: Es ist die richtige Stelle. Jeder Mini-Schritt in Richtung Entspannung ist besser als gar keiner.
Und Mini- Schritte können die Clowns. Vorwärts, seit- und rückwärts. Sie können wahrscheinlich, zusammen mit den Kindern, als einzige auch riesengroße Mini-Schritte gehen.
Wenn der Clown ein Patientenzimmer betritt, hat er erstmal kein Ziel, zumindest nicht im medizinischen oder therapeutischen Sinne. Es kann sein, dass er eine Mission hat, z.B. alle Waschbeckenvolumen auszumessen, mit einer Socke als Messwerkzeug. Aber er hat kein reales therapeutisches Ziel, das dem Patienten oder Kind etwas abverlangt.
Im Gegenteil, oft weigert der Clown sich, die Realität, in diesem Fall die eines Krankenhauses, als solche anzuerkennen. Er erkennt die Blutentnahme-Utensilien als etwas merkwürdige Gartenbauwerkzeuge, welche sicher auch beim Angeln hilfreich sein könnten, oder etwa nicht?
Und wenn diese zwei Realitäten aufeinanderprallen, kann das eben den berühmten Riss in der Matrix bewirken. Für einen Moment lassen die Patienten, die Eltern oder das Personal ihre Realität los, die gerade dominiert wird von schmerz- und stressauslösenden Emotionen.
Der Clown lädt sie für diesen Moment ein: nur zu sein. Nichts wollen. Es nicht eilig haben. Nicht sauer sein. Nicht perfekt sein. Kein Ziel erreichen müssen.
Das ist der Raum zwischen „Gar nichts tun“ und „Ideal“.
Was Patienten stresst, ist ja nicht der Piks mit der Nadel, sondern die eigene Vorstellungskraft, wie furchtbar das alles ist. Vergleichbar damit, wenn wir uns abends einen Horrorfilm anschauen. Wenn wir diese Bilder als unserer Realität akzeptieren, geht’s los, wir werden gestresst, weil unser Körper nicht unterscheiden kann, dass unsere Angst (= Gedanken) von einer unbedeutenden Mattscheibe erzeugt wird.
Es ist für uns sehr real, aber trotzdem nicht wahr. Es ist nur in unserem Kopf. Ein Geflecht aus Gedanken und Emotionen, welche sich gegenseitig befeuern. Wird dann ausreichend Noradrenalin, Adrenalin und Cortisol ausgeschüttet, werden wir in Richtung Angriff, Flucht oder Verteidigung gedrückt: mit allem was dazu gehört. Das ist der Raum, den wir „Gar nichts tun“ genannt haben.
Dieser „Gar Nichts tun“-Raum kann aber vermieden werden, wenn wir gar nicht erst zu tief in den negativen Gedankenstrudel versinken. Oder eben eine Brücke bauen, eine Brücke über den Abgrund sozusagen.
Nehmen wir als Beispiel die Blutentnahme. Für manche ein Klacks, für andere ein Abgrund. Da ist das Personal, das Blut abnehmen muss, dann die besorgten Eltern und das ängstliche Kind, das die Untersuchung nicht will.
Alle wollen hier gleichzeitig etwas sehr Unterschiedliches. Und alle wollen es jetzt. Die Blutentnahme ist notwendig und die Sorge sicher gut gemeint. Das Kind kann sich diese Untersuchung nicht aussuchen. Die Sorge und das Notwendige schieben das Kind in Richtung Abgrund.
Das ist eine verfahrene Situation. Wir kennen solche Situationen alle. Durch den Stress sind alle nicht mehr in der Lage, entspannt zu bleiben und sich zu erinnern, was es jetzt eigentlich braucht. Nötig wäre, kurz Atem zu holen. Ein kurzer Moment der Absichtslosigkeit. Raum anstatt Enge.
Hier kommt wieder der Clown ins Spiel. Der Clown baut eine Brücke über den Abgrund.
Er reicht sozusagen von der anderen Seite die Hand: „Komm schon, Herzchen, hier drüben ist es schön, gerade. Schau mich an, wenn du magst. Ich bin eine neue Möglichkeit dieser Situation. Ich weiß auch noch nicht, was passieren wird. Ich habe keine Ahnung und das ist gut so.“
Der Clown zeigt uns diesen Weg, weil er es kann – und nicht weil er muss.
Warum das über den Archetyp des Clowns gut funktioniert, habe ich übrigens in einem anderen Blogbeitrag ausführlich beschrieben. Der Clown baut also diese Brücke. Bestehend aus nichts wollen und nichts wissen. Klingt unstabil und paradox, ist es aber nicht. Im Gegenteil.
Durch die Absichtslosigkeit wird von einem weinenden Kind nicht auch noch verlangt, es möge sich doch beruhigen. Kennen Sie das? Wenn Sie gerade auf der Palme sind und es rät Ihnen jemand wohlwollend sanft, sich doch zu entspannen? Oder rät Ihnen, doch aufzupassen, gerade nachdem sie gestolpert sind und sich schmerzhaft das Knie gestoßen haben?
Ja, genau. Großer Quatsch. Wissen wir alle und machen es doch immer wieder. Weil wir es nicht aushalten können, dass der andere leidet. Weil das etwas mit uns macht und das wollen wir nicht fühlen bzw. ertragen. Daher möge doch der andere bitte jetzt weniger leiden oder weniger Schmerzen haben.
Oft verschlimmern wir eine Situation alleine schon dadurch, dass wir sie ablehnen und nicht akzeptieren wie sie ist. Vor allem Kinder bekommen dann ein Problem. Kinder spüren in solchen Situationen, dass sie daran Schuld sind, dass Papi oder Mami jetzt leidet – und dass sie doch mal damit aufhören sollen.
Kinder haben aber noch keine Wahlmöglichkeit oder Strategien, um Emotionen zu kontrollieren. Und sind somit die doppelt Leidtragenden. Wichtig ist, dass den Erwachsenen bewusst ist, dass niemals die Blutentnahme selbst das traumatische Erlebnis ist (4x Piksen = Trauma). Nein!
Was traumatisch ist, ist der Umgang mit der Situation, die Verdrängung und Ohnmacht und schlussendlich im Verlauf dann die Wiederholung und Verfestigung der schmerzhaften Gedanken. Diese führen dann zu unbewussten Glaubenssätzen, die ein späteres Verhalten maßgeblich beeinflussen. Wie oft haben wir erlebt, dass Kinder in Situationen bitterlich geweint haben, um in der nächsten Sekunde wieder entspannt zu spielen? Gelebte Resilienz. Kinder können das. Das ist nicht gespielt, das ist echt.
Ich habe schon oft medizinisches Personal gesehen, z.B. in der Anästhesie, die diese absichtslose Leichtigkeit gelebt haben. Sehr erfolgreich. Humor, Spaß, Freude, Phantasie, Offenheit und Neugierde für den anderen Menschen. All das sind Brücken, die über den Abgrund helfen können.
Manchmal hält die Brücke, bis man sicher auf der anderen Seite steht. Andere Male fängt sie an zu bröckeln, wenn jemand mitten auf der Brücke steht, weil noch etwas zusätzlich passiert ist, z.B. die Trennung von einer Vertrauensperson. Die Brücke beginnt einzustürzen, die Tränen bzw. Emotionen fließen. Ja, das passiert. Immer wieder.
Meine Erfahrung hat mir gezeigt, dass die Fallhöhe am Ende der Brücke nicht mehr ganz so tief ist wie am Anfang. Es macht also sehr wohl einen Unterschied, wenn Kinder und Patienten auf dem Weg zur Untersuchung oder Operation drei Viertel der Zeit entspannt waren.
Natürlich macht das körperlich einen großen Unterschied, ob man leicht gestresst die Narkose beginnt oder schon völlig außer sich ist. Es nimmt Einfluss darauf, wie gut Wunden heilen. Es nimmt Einfluss darauf, wie viel Schmerzmedikamente postoperativ benötigt werden. Es nimmt Einfluss auf die körperliche und psychische Verfassung, welche mitentscheidet, wie gut ich mich im weiteren Heilungsverlauf um mich selbst kümmere.
Dazu kommt, wie man schmerzhafte Situationen nachbereitet. Trösten und Beistand sind hier immer willkommen. Optimalerweise auch hier absichtslos.
Ich erinnere mich an die Traumaforscher, welche in einer Weiterbildung zur Begleitung geflüchteter Menschen erzählt haben, dass die Willkommenskultur für Menschen aus Krisengebieten psychologisch so wichtig ist. Es ist eine Sache, einmal in seinem Zuhause nicht mehr gewollt zu sein und auch mit Gewalt gezwungen zu werden dieses zu verlassen. Es ist eine ganz andere Sache, diese Erfahrung dann über Jahre immer wieder zu machen. Dann wird es wirklich schwierig. Auch wenn das „nur“ mit Worten passiert.
Da kommt der Clown mit seinem Da- Sein genau richtig. Wofür er oft belächelt wird, nämlich „nichts zu können“, was ja aus dem „nichts müssen“ oder „nichts wollen“ entsteht, ist hier sein mächtiger Infinity-Stein. Das ist im Marvel-Universum eine unerschöpfliche Kraftquelle. Es hat schon seinen Grund, dass alle großen Helden-Sagen mit einem unbedeutenden Jüngling beginnen, der nichts kann und nichts weiß, gerne auch schwach ist. Aber er oder sie wissen immer, was richtig und was falsch ist. Sie sind aufrichtig und edel in ihrem Sein.
Das Da-Sein ist die einzige Daseinsform (absichtslos), die es wirklich gibt. Wir vergessen das nur gerne. Aber in Situationen, wo uns auch all unsere Bildung, Kraft oder sonstigen Skills nicht helfen können, bleibt uns nur das Da-Sein.
Was bedeutet das für das tägliche Leben, das uns immer begegnet und so unperfekt ist?
Wir erleben den tobenden Chef, die Kündigung der lieben Mitarbeiterin, die noch nicht perfekte Marketingstrategie, den finanziellen Kollaps und viele andere Herausforderungen.
Egal wie die Umstände sind, die gerade vor deinem inneren Auge vorbeiziehen und dich ins Chaos stürzen und dein Blut wortwörtlich in Wallung bringen:
Du bist es, der nicht sieht, dass genau jetzt im Büro neben dir jemand sitzt, den dies überhaupt nicht tangiert und der völlig gelassen bleibt. Das bedeutet, dass wir immer selbst entscheiden, wie wir mit dem Raum zwischen Reiz und Reaktion umgehen. Niemand sonst. Und dass es immer eine absichtslose Alternative gibt, von welcher Möglichkeit auch immer.
Denk an den Clown und reiche ihm die Hand, nutze die Absichtslosigkeit des Clowns. Das macht dich nicht selbst zum Clown. Dafür brauchst du kein Kostüm und keine rote Nase. Auch dem Clown hilfst du damit nicht, denn der braucht dich nicht. Aber du: Du wirst dir selber helfen, über den Abgrund zu steuern. Probier es mal aus.
Sören Kaspersinski ist Experte und Humortrainer am Deutschen Institut für Humor. Er arbeitet als Klinikclown regelmäßig in der OP-Begleitung von Kindern, auf unterschiedlichsten Stationen und in der Geriatrie.
*Quelle: hier