Haben wir ein Narzissmus-Problem?

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Wir Menschen sind soziale Wesen und finden im Gegenüber unser Eigenes. Die Psyche ist allerdings nicht fälschungssicher. Wir Menschen sind seelische Überlebenskünstler. Das müssen wir auch, weil viele von uns unter ungünstigen Bedingungen großgeworden sind. Überleben garantiert die Kunst im Umgang mit Unglück, aber nicht die Offenheit für Glück.

Als Speakerin, Führungkraft oder Trainer tritt man vor eine Gruppe, man belebt eine Bühne und man reißt sein Publikum mit. Manchmal moderiert, sortiert und strukturiert man. In wirksamer Resonanz mit einer Gruppe hält man den Spiegel vor. Dann kann das Leben leichter machen oder Probleme aufzeigen und neu sortieren.

Wir alle haben ein Selbstachtungsbedürfnis. Wir achten uns selbst. Menschen in narzisstischen Nöten dagegen brauchen ständig Zufuhr äußerer Bestätigung. Das Ausbleiben führt zu desolaten inneren Zuständen von Scham, Empörung und Unverständnis. Narzisstischer Grandiositätsbedarf ist ein Ersatzbedrüfnis. Denn der Wunsch, andere mögen einen toll, attraktiv, klug und wichtig finden, ist kein Bedürfnis. Und da wird es auf Rednerbühnen spannend. Machst Du Deinen Job als Speaker oder Führungskraft auch gerne, wenn Du keinen Applaus dafür bekommst?

Mich hat in den vielen Jahren auf Bühnen, in Unternehmen und mit Speakerkollegen immer irritiert, wenn ein Profi oder eine Expertin so gar nicht in Resonanz mit seinen Auftrittskolleg:innen oder dem Publikum gingen. Sie kamen, haben Expertise geliefert und sind wieder gegangen. Es schien egal zu sein, wer vor ihnen sitzt. Es sind die Besten, Schönsten, Mächtigsten, die Beliebtesten oder die Wichtigsten. Aber es geht dann im Raum nicht um die Verbundenheit mit den Anderen. Es geht um umgarnen, erobern, verführen, abhängig machen, beeindrucken oder kontrollieren.

Der Druck, sich perfekt, schön, makellos und immer erfolgreich zu präsentieren ist enorm: wer macht auf LinkedIn schon gerne einen Job, den er nicht liebt? Eine beliebte Narzissmus-Falle?

Deshalb prüfe ich immer wieder gerne meine internen und externen Motive für meinen Job. Und überprüfe, ob ich noch gut in Kontakt, also in Resonanz, mit den Menschen um mich herum bin. Mein Rednerkollege Sören Film hat gerade noch mal ganz neue Töne für diesen Thema anklingen lassen. Musikalisch und rhetorisch.

Menschen auf Bühnen, in Kindergärten, in Medien, an Universitäten können beeindruckende Karrieren hinlegen. Wenn sie aus einer narzisstischen Not entstehen, bringt das viel Leid mit sich.

Menschen in narzisstischen Nöten spüren ihre Not meistens nicht, sondern lassen (andere) leiden. Und das Publikum ist manchmal ein schlechter Erzieher. Denn wenn sich andere immer nur und mehr als angemessen über das erfreuen, was Du tust, dann verlierst Deine Resonanz jeglichen Orientierungssinn.

Klaus Eidenschink hat eine hervorragende Einordnung über narzisstische Nöte geschrieben. Ein Lese-Muss für jede:n Speaker:in und jede Führungskraft.

Etiketten sind etwas für Flaschen, nicht für Menschen. Psychotherapeut Frank M. Stemmer prägte diesen Satz und Klaus Eidenschink nimmt ihn beim Wort. Er spricht nie von Narzissten, sondern von Menschen in narzisstischen Nöten. Das macht dieses Buch so professionell.

Narzissmus ist kein Selbstwertmangel, sondern eine Bezeichnung für eine innere Leere. Und der Versuch, diese Leere durch ein Konzept von sich und dem Leben zu verwirklichen. Narzissmus zeigt sich durch die leiderzeugende und grandiose Idee, dass man sich und die Welt designen kann. Leben wird zu einem Produkt.

Niemand kann sich aussuchen, womit er in seiner Zeit fertig werden muss. Jede Zeit hat ihre Herausforderungen und ihr soziales Miteinander.

Narzisstisch leidende Menschen neigen dazu, andere auszubeuten, zu demütigen, zu beschämen oder zu missbrauchen. Dabei merken sie es oft nicht einmal. Es ist keine willentliche Entscheidung, narzisstisch zu sein, deswegen kann man es auch nicht einfach wieder abschalten. Der Autor ermutigt, sich liebevoll mit seinen eigenen ungünstigen Idealen auseinander zu setzen.

Blaue Flecken der Seele aufgrund von narzisstischem Missbrauch sind jedoch zunächst unsichtbar. Und man muss sie überhaupt erst entdecken.

Egozentrizität, Empfindlichkeit, Empathiemangel, Entwertung. Die innere Not besteht darin, dass man wenig bis keine Orientierung hat. Aber dauernd den Ton angibt als Speaker oder als Führungkraft.

Woran erkennt man narzisstische Not auf beiden Seiten (Speaker, Kunde)? Man orientiert sich nicht daran, ob man bei einer Speakerin oder einem Berater gut aufgehoben ist. Man will den Besten Speaker oder den geilsten Kunden. Man erzählt nichts Persönliches, sonders ist nur Expertin oder Guru. Man ist mit Gruppen zusammen, aber doch völlig allein. Klaus Eidenschink beschreibt es viel ausführlicher und besser.

Wir Menschen sind Resonanzwesen. Wenn dieses “In Resonanz kommen” scheitert und massiv gestört ist, dann ist eine Art, damit zurecht zu kommen, narzisstische Erlebnismuster auszubilden.

Wer sich nicht spüren kann, sucht ein äußerliches Echo für das, was er bietet, aber nicht für das, was er erlebt und was ihn ausmacht. Aus dem Wunsch zu lieben wird die Abhängigkeit von Bestätigung, und so entsteht das unglücklichmachende Begehren, dass andere einen lieben für das, was man darstellt.

Ohne einen feinen seelischen Tanz bleiben wir Menschen in der Tiefe einsam und verloren. Man wird, was man glaubt, anbieten zu müssen, und vergisst sich selbst.

Gemeinsames Schwingen & Surfen wird verlernt oder Spielerisches Miteinander wurde nie gelernt. Kinder, die nie im eigenen Rhythmus spielen durften oder immer wieder verzerrten Spiegeln ihrer Eltern begegnet sind, entwickeln eine Gestaltungsdominanz: Sie drücken jeder Situation ihren Stempel auf. Auch das kann eine Ausweichstrategie sein.

Narzisstische Not bedeutet, die Neigung zur Kontrolle anderer in Beziehungen, zu idealer und grandioser Vorstellung sowie höchster Kränkungsbereitschaft ist im starken Maße vorhanden.

Klaus Eidenschink nimmt unseren Alltag als Profis, Eltern, Ehepartner und Kollegen genau unter die Lupe. Er beschreibt, wie Narzissmus in Systemen erhalten und stabilisiert wird.

Er zeigt auf, wie er als Psychotherapeut Menschen in narzisstischen Nöten hilft und diese senkt. Er empfiehlt ganz klar, sich Unterstützung und Hilfe zu holen. Und er stellt erste wichtige Fragen: Was ist liebenswert an Dir ohne all Dein Beiwerk? Ohne Deine Karriere, ohne Deine vorzeigbaren Kinder oder beeindruckenden Hobbys und ohne Deinen geliebten Job?

Nein, wir Speaker und Führungskräfte haben nicht automatisch ein Narzissmus-Problem. Die Sehnsucht nach tiefer Verbundenheit mit anderen Menschen, die nicht auf Vorleistungen und Beeindrucken besteht, kann jedoch weit hinter narzisstischer Scham vergraben sein. Es lohnt sich sehr, in einer Welt, die narzisstische Nöte eher schützt als aufdeckt, genauer hinzuschauen. Klaus Eidenschink geht in seinem Buch der Not schonungslos an den Kragen und nimmt uns alle mit in die Verantwortung. Pflichtlektüre für Menschen in Führung. Und für Speaker:innen auf Bühnen.